Stell Dir vor, Du bist RWE-Fan, da kannst Du jeden Tag nur noch saufen. Ausgerechnet einem von den so unausstehlichen Nachbarsjungs musste das Bonmot aus der Lippe fallen, das seither als Zustandsbeschreibung des Essener Fußballs Karriere macht. Essen, Hafenstraße, das ist ein Überlebensgefühl, RWE-Fan ist man vor allem trotzdem. Wohl bei keinem anderen deutschen Verein stehen fußballerisches Angebot und Ticketnachfrage in einem ähnlich schiefen Verhältnis wie in Essen-Bergeborbeck. Scheinbar abgekoppelt von der sportlichen Bilanz diesseits der späten Kreidezeit hat sich die treue Anhängerschaft längst zu Tafelsilber, Kronjuwelen und einzigartigem Verkaufsversprechen des immer ehemaligeren Deutschen Meisters entwickelt. Diese imponierende Fanszene ist nun um eine Facette ärmer. Etwas temperamentvoller könnte man sogar diagnostizieren: Das Herzstück der Kurve hat seinen Dienst quittiert.
13 Jahre lang haben die Ultras Essen entscheidend dazu beigetragen, nicht nur ihre eigene Gruppe, sondern auch die Entwicklung der Kurve zu prägen. Wo in den 1980er und 90ern noch oft das Faustrecht der Hooligans Anwendung fand, mendelte sich nach 2002 das Phänomen „Ultra“ als tonangebend für eine neue Generation Fans heraus. Heute können viele noch so sehr die Stimmung der 70er und 80er Jahre verklären – ohne Ultras geht’s nicht, weil sonst nichts geht. In Essen einstweilen gleichsam traurige Realität.
Leider ein beinahe symptomatischer Verlauf. Gemessen an ihrem Alter kommen viele Ultragruppen gerade in die Pubertät. 13 Jahre sind eine lange Zeit für eine solche Schicksalsgemeinschaft und ein in mancher Hinsicht kritischer Lebensabschnitt. Sichtweisen verschieben sich, Interessen ändern sich, man kennt das aus der eigenen Biografie. Mehr noch unterliegt jede Ultragruppe einer besonderen Fluktuation, die es immer wieder nötig macht, neue Strukturen zu schaffen. Vielleicht steht am Ende solcher Verschiebungen auch die Auflösung eines Zusammenschlusses, der realistisch betrachtet für die meisten immer als Bündnis auf Zeit angelegt war. Wie schwer es viele Ultras haben, auf der schwindelerregenden Kommerzialisierungsschraube und im Spannungsfeld zwischen Verein, Politik und Polizei nicht den Halt zu verlieren und ihr Selbstverständnis aufzugeben, sieht man in Hamburg, Hannover – beinahe überall. Wenn es nur noch „Friss oder stirb“ heißt, werden hier womöglich noch ganz andere den Notausgang wählen.
Dass offenkundig rechte Gruppen in Essen aber einige Entwicklungen auch gewaltsam mit den bekannten Einschüchterungsmethoden beschleunig oder gar erst verursacht haben, ist unerträglich. Es bleibt spekulativ, ob sich unter anderen Umständen ähnliches zugetragen hätte – und wenn ja, wann. Es ist aber nicht einmal ein Geheimnis, dass die Auflösung der Ultras Essen auch einem Mitgliederschwund geschuldet war, der zum Teil von (rechts-)außen vorangetrieben wurde. Leider kein einmaliger Prozess – an schlechten Beispielen mangelt es hier nicht. Es bleibt dem Verein zu wünschen, dass er Lehren und Konsequenzen daraus zieht. Ein schmallippiges Vielen-Dank-auf-Wiedersehen, wie es das Essener Fanprojekt verlautbart hat, ist jedenfalls zumindest auch ein falsches Signal an die falschen Typen. Die Fanszene wird von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Und so ungern der Verein sportlich in der Vergangenheit verharren will, so wenig darf er den mit „ewiggestrig“ noch viel zu sittsam Apostrohpierten nun die Kurve überlassen.